Bildungsurlaub im hohen Norden

Gemütliche fünf Stunden auf der Autobahn bringen einen aus dem Rhein-Main-Gebiet ins Emsland. Baustellen und freie Strecken wechseln ich ebenso ab wie Regen und sonnigen Wolkenlücken. Auf halber Strecke stimmen wir uns bei der “NORDSEE Bottrop”  mit Fischbrötchen auf das Kommende ein. Das “Bildungszentrum” liegt irgendwo im Nirgendwo. Eine alte Backsteinkirche bewacht das Areal, im “Alten Pfarrhaus” sind Speisesaal und Gästezimmer untergebracht. Die Anmutung ist insgesamt protestantisch schlicht und streng. Einzelzimmer mit integriertem Bad kosten 21 Euro pro Nacht Aufpreis, dafür ist das Zimmer ausreichend groß und sauber. Standard wären “Zimmer mit Waschbecken (WC und Einzelduschen befinden sich auf der Etage)”. Vier Mahlzeiten am Tag sind allerdings in jedem Fall im Seminarpreis enthalten – auch wichtig!

Das Abendessen bei einer Anreise am Sonntag ist allerdings nicht dabei, also ab in die Dunkelheit. Hier oben, kurz vor dem Polarkreis, geht die Sonne gut zehn Minuten früher unter als zu Hause. Zwei Dörfer weiter liegt der “Deterner Krug”, gutbürgerliche Küche lecker Bier und ein netter Schnack mit der Bedienung. Schnitzel mit Hollandaise und Krabben, dazu Bratkartoffeln zum Niederknien. Alles sehr lecker und ein guter Tipp der netten Dame vom Bildungszentrum.

Kalauer – Nach dem Abendessen stehen wir auf dem Parkplatz, ein Blick in die dunkle Runde. “Schau mal, da drüben liegt echt der Hund begraben”. Auf den zweiten Blick fängt da die Friedhofsstrasse an…

Wieder im Zimmer angekommen noch Zähne putzen und über das WLAN (gratis!) noch ein bisschen Country 105 hören. Ansonsten hört man hier nämlich – nichts. Keine Flugzeuge, kein Martinshorn, auch keine Lichtverschmutzung. Einfach nur Stille und Dunkelheit vor dem Fenster. Und als das Handy mich aus dem Schlaf reißt, ist es noch genauso dunkel. Frühstück um 8:00, Sonnenaufgang ist erst für 8:15 vorgesehen. Allerdings sagt die Wetter-App auch “Anzahl Sonnenstunden: 0”. Und wird damit recht behalten.
Das Frühstücksbuffet ist auch bei starker Bewölkung noch gut zu sehen. Das Angebot ist überschaubar, aber alles da, was man braucht. Statt fünf Sorten Müsli und zehn Sorten Nüsse, Samen und Beeren – eine Sorte. Kaffee, schwarzer Tee, Brötchen, Wurst, Käse, Orangensaft. Reicht mir völlig. Heute Vormittag ist noch kein Programm, um 14 Uhr soll es dann losgehen.

Der Vorstellrunde ging schnell vorbei, dann noch das Geld für die geplanten Ausflüge ins alten Handwerk abdrücken und rein in die Theorie.
Was gab es im mittelalterlichen Ostfriesland an Berufen und Gewerken, wie lief das mit den Zünften? Die meisten Berufe gab es früher in jedem Dorf, z.B. Schmiede und Stellmacher (“Wagner”), andere konzentrierten sich eher in den größeren Gemeinden oder Städten. Denn nur wo genug wohlhabende Kunden waren, lohnt sich die Goldschmiede oder Handschuhmacherei. Jo, das war früher ein separater Beruf! Ab dem 18./19. Jahrhundert kam es dann zu einer zunehmenden Konzentration von Berufen, Stichwort “Industrialisierung”. Viele der alten Berufe sind durch die Fabrikfertigung mit ihrer Massenfertigung oder anderen Fortschritt weggefallen, ob nun die Weber oder die Hufschmiede. Ein Video zum Thema “Schuhmacherei” schloss den ersten Schulungstag ab. Unglaublich, wie viele Arbeitsschritte und Werkzeuge es braucht, um ein simples Paar Lederschuhe herzustellen.

Der zweite Tag findet außer Haus statt, also nur ein kurzes und frühes Frühstück, dann das Lunchpaket zusammen packen und rein in die Autos. Im Dörpmuseum Munkeboe scheint die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg angehalten worden zu sein. Eigentlich ist das Museum ab Ende Oktober geschlossen, aber für unsere Gruppe haben einige der Handwerker eine Ausnahme gemacht und sind noch mal in den Blaumann gesprungen. Mit Hammer und Amboss bringt der Schmied ein Stück glühendes Eisen in Form. Am Schluss ist ein Türbeschlag. Heutzutage werden die vermutlich maschinell schnell gebogen, zehnmal so schnell und ein Teil genau wie das andere.
Beim Stellmacher hat es dann schon etwas mehr moderne Technik, immerhin wird die Drehbank über Transmissionsriemen angetrieben. Aber auch hier haben Augenmaß und geübte Hände noch den größten Stellenwert, keine Computersteuerung steuert die Werkzeuge, keine Lasersensoren nehmen Referenzpunkte ab. Beim Sägewerk klappte die Vorführung leider nicht, dem 30-Liter-Dieselmotor war es zu kalt. Der Pressluftanlasser hat ihn zwar durchziehen können, aber die fünfzig Pferde waren wohl schon in den Süden geritten.

Nach dem Mittagessen habe ich versucht zu spinnen. Einmal im falschen Moment zu der Oma geguckt, die diese alte Handarbeit vorgeführt und schwups, saß ich auf dem Stuhl. Dejavu aus der Schule… Was soll ich sagen? Epic fail, ich bin definitiv kein Spinner, das hab ich nun amtlich und vor Zeugen nachweisen können. Und nein, ich möchte zu Weihnachten auch kein Spinnrad geschenkt bekommen! Beim restlichen Programm (Weberei, Glasbläser und Blaudruck) habe ich mich dann lieber mal raus gehalten.

“Blaudruck” oder auch “Blaufärben” bezeichnet eine alte Art, Muster auf Stoffe aufzubringen. Dazu nimmt man Holzmodel (Stempel), packt da ein Gemisch aus Wachs und “anderen Sachen” (geheim, geheim) drauf und presst sie auf den weißen Stoff. Viele Male. Das Gemisch verhindert beim anschließenden Färben mit Indigo, dass diese Stellen auch gefärbt werden. Danach wird das Wachs entfernt und man hat ein blaues Stück Stoff mit weißem Muster. Simples Prinzip, aber da muss man auch erst mal drauf kommen.

Beim Glasbläser fand ich weniger das Handwerk interessant, wenn auch die Leichtigkeit mich beeindruckte, mit der er während des Redens da am Arbeiten war. Vielmehr war es die Erzählung aus seiner Lehrzeit, die einen Einblick in das Sterben einer Zunft gab. Er hat damals wohl Apparatebläser gelernt, also z.B. diese Ventile und Knebel, die man so aus dem Chemieunterricht noch kennt. Für die konnte man im Akkord zu Beginn seiner Lehrzeit noch 17 Pfennige pro Stück zum Lohn dazu verdienen. Am Ende der Lehrzeit gab es nur noch 8 Pfennige, weil in der Zwischenzeit Methoden entwickelt worden waren, um diese halb-maschinell von Hilfsarbeitern herzustellen. Die “Fachkraft” war nicht mehr gefragt.

Zum Abschluss gab es im Speisesaal des Museum noch eine Einführung in die Ostfriesische Teekultur. Kluntje zuerst, Tee (nur dreiviertel voll die Tasse!) und zum Schluss noch Sahne. Diese unbedingt GEGEN den Uhrzeigersinn in die Tasse geben, “um die Zeit anzuhalten”. Dazu noch Rosinenstuten mit Butter.
Auf der Rückfahrt machten wir noch einen Zwischenstopp bei einer kleinen Brauerei. Kurze Einführung durch die Biergeschichte vom alten Mesopotamien durchs Mittelalter bis in die Neuzeit. Anhand der alten Brauanlage konnte man dann sehen, wie schon seit Uhrzeit mit zwei großen Kesseln das Jungbier hergestellt wird. Kein Edelstahl, keine elektrischen Rührwerke, sondern Holzfeuerung und Handrührer. Kleiner Schmunzler: “Jungbier entspricht etwa dem Federweißen beim Wein oder beim Apfelwein dem…” – “RAUSCHER”. Treffen sich eine Handvoll Hessen in einer Dorfbrauerei in Ostfriesland… Der Mann hat sich auf jeden Fall gefreut, ihn hat es nämlich aus Frankfurt(!) nach Bagband verschlagen.
Kleiner Einschub: die Brauerei verzichtet aus ökologischen Gründen auf Kronkorken und geklebte Etiketten, statt dessen gibt es Bügelflaschen mit Adhäsionsetiketten bzw. neuerdings auch gravierten Etiketten. Nur für den kleinen Aufkleber oben über dem Stopfen, auf dem Charge, Haltbarkeit etc. stehen müssen, hätten sie bisher noch eine Lösung gefunden…

Nach dem Abendessen (Hühnerfrikasse mit Reis, yummieee) noch ein Absacker in der EBZ-eigenen Bar. Nachdem die letzte Kneipe im Ort geschlossen hatte, wurde die ehemalige Schmiede renoviert und mit allem ausgestattet, was man so braucht: Billard, Kicker, Theke und Kühlschrank. Dazu in der ehemaligen Esse nun ein Kamin. Gemütlich und genau richtig.

Linkliste:
https://www.potshausen.de/
http://www.deternerkrug.de/
http://dörpmuseum-münkeboe.de/

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