Die Küste, endliche Weiten

Wenn es irgendwo gut war, wieso sollte man anderes blind ausprobieren? Also geht auch der Bildungsurlaub 2018 nach Potshausen im Overledingerland. Thema: “Weltnaturerbe Wattenmeer”. Die Reise in den Norden verlief… schleppend. Frühstück mit Papa, ab ins Auto, hoch motiviert, am Wiesbadener Kreuz Kurs Nord eingeschlagen und – STAU, von Idstein bis Limburg. Und schon war der Zeitplan Essig. Auch der Rest der Strecke bestand gefühlt zur Hälfte aus Baustellen, so richtig zügiges Fahren kam nicht auf. Doch um halb fünf fuhren wir auf den Parkplatz des EBZ Potshausen, bisschen später als geplant, doch nur genug Zeit zum Auspacken und Erholen. Ich hatte sogar dasselbe Zimmer wie beim letzten Mal, Platz genug. Abendessen wieder im Deterner Krug, lecker Schnitzel mit Bratkartoffeln, Pilzen und Rotweinsoße. In Detern war übrigens Burggarten-Fest, Unmengen an Autos. Total ungewohnt.
Montag morgens Frühstück, man lernt die ersten Kursteilnehmer kennen. Anschließend noch ein bisschen Pause, der offizielle Teil startet ja erst um 13:00. Kurzleitung macht wieder der Heinz, das war schon Auswahlkriterium. Die schon gewohnte Statistikrunde ergibt, dass ich der Jüngste in der Runde bin, niemand U40 und nur zwei von über zwanzig U50. Eindeutig fehlt da der Nachwuchs. Besonderen Wert legt Heinz auf die Wattwanderung, ausgiebig weißt er auf die Besonderheiten hin – richtiges Schuhwerk, Sonnenschutz und ausreichende Kondition. Ein bisschen mulmig wurde mir da schon, mein leichtes Übergewicht werde ich wohl im Schlick doppelt merken. Aber ich entschied mich, das durchzuziehen und nicht mit der Fähre nach Borkum überzusetzen.
Doch erstmal die Theorie. Das Wattenmeer. Zieht sich von den Niederlanden entlang der deutschen Nordseeküste bis nach Dänemark. Die riesigen Flächen, die bei Ebbe trockenfallen, sind weltweit einmalig und ein riesiger Lebensraum für eine ebenso einmalige Flora und Fauna. Seit 1986 ist der niedersächsische Teil Nationalpark, Teile sind für Menschen nicht mehr zu betreten, sogenannte “Ruhezonen”. Spätestens seit dieser Zeit gibt es ein Gegen- und Miteinander verschiedener Gruppen: Naturschützer, Küstenschützer (Deichbau), Landwirtschaft, Fischerei, Industrie, Tourismus. Jeder will was von dem schönen Flecken Erde und die meisten Forderungen sind direkt gegensätzlich. Spannend, und in der Tiefe kennt man es als Binnenländer auch nicht. Ein Film “Land in Sicht” zeigt, wie sich das Land im Jahr so verändert, welche Vogelarten wann hierher kommen, zum Rasten oder auch für länger. Kein Wunder gibt es zum Thema “Vogelzug” eigene Seminare hier.
Abendessen Matjes mit Bratkartoffeln. Muss man mögen, meins sind die Fischfilets nicht so ganz. Aber passt schon. Die erste Nacht mochte mein Rücken noch nicht so arg, fremde Betten, wer kennt das nicht. Das sollte über die Woche aber besser werden.

Morgenstund hat Gold im Mund. Der “Clearstream”-Wecker warf mich viel zu früh aus dem Bett, nein, ich will nicht um halb sechs aufstehen! Duschen. Frühstück. Tee. Brot. Wurst. Noch ein kleines Lunchpaket packen, dann ab zu den Autos, heute gibt es eine große Rundreise. Erster Stopp ist das Dollart-Museum in Bunde, dass ein ehemaliger Telekom-Ingenieur (Vorruhestand) seit einigen Jahren praktisch als Alleinunterhalter betreibt. In diversen Dioramen ist die Geschichte des Deichbaus dargestellt. Alles in seiner Freizeit hergestellt, eine Heidenarbeit – mehrere hundert Zahnstocherteile (“Zaunpähle”) anzumalen, mit Bindfaden zu verbinden und aufzustellen… muss man schon nen leichten Hau haben für?! Sehr schön konnte er allerdings vermitteln, dass auch der Deichbau in früheren Jahrhunderten eine Knochenarbeit war. Der Boden ist wohl extrem fest und schwer und die ganze Erde musste vor dem Deich, Richtung Meer, ausgehoben werden. Dann auf kleine Karren, den Deich hoch, und da verfüllt werden. Später in der Woche sahen wir “Küstenschutz 2000”, schwere Planierraupen, große Traktoren, die Hänger voller Erde zu riesigen Haufen transportierten. Auf einem großen Display (ebenfalls Marke Eigenbau, mit der Schalttechnik der 80er) konnten wir sehen, wie sich die Küstenlinie am Dollart verändert hatte. Im späten Mittelalter hatten große Sturmfluten riesige Gebiete an der Emsmündung verschlungen und den Dollart entstehen lassen. Viele Dörfer wurden aufgegeben. Doch ab dem 17. Jahrhundert wurde schon wieder Land zurück gewonnen. Polder für Polder wurde eingedeicht und wieder landwirtschaftlich genutzt. Auch einige Exponate aus dieser Ära sind im Museum ausgestellt und werden von unserem Guide zum Leben erweckt.
Nun aber endlich wieder Tee. Und lecker Torte. Weiter geht´s. Nanu. Die Straßenschilder sehen plötzlich so komisch aus. Der Vogelposten “Kiekkaste” liegt doch wirklich in Holland. Nein. Niederlande. Landshcaft Groningen. Einen knappen Kilometer geht es über einen Bohlenweg durchs hohe Schilf, dann steht man unter einem Beobachtungsposten wie aus einem SciFi-Film. Ein paar Meter hoch auf Stelzen errichtet ein Einfamilienhaus mit Seeschlitzen in alle Richtungen. Mit Vaterns Fernglas aus alten Armeebeständen konnte man sogar einiges sichten. Wieso sind da eigentlich kyrillische Buchstaben drauf? Aus den Beständen WELCHER Armee? Irgendwie volkseigen? Ach so.
Zur Mittagspause ging es nach Ditzum, kleines Dörfchen mit 700 Einwohnern, kleinem Fähr- und Fischereihafen und zu wenigen Parkplätzen. Auf dem Weg zum Fischbrötchen führt der Weg durch schnuckelige Gassen, vorbei an einer Kirche mit separatem Turm und einer Windmühle (Gallerieholländer, letztes Jahr gelernt). Die Sache mit dem separaten Kirchturm erklärt sich ganz einfach: der Marschlandboden hier oben wäre für eine Kirchen mit integriertem Turm nicht stabil genug, darum sind es zwei getrennte Bauwerke.
Von Ditzum aus geht es zum “Bohrturm” Dyksterhusen, eine alte Plattform, von der aus in den 60er Jahren mal nach Erdgas gesucht wurde. Erfolglos. Heute ein schöner Aussichtspunkt mit Blick über den Dollart Richtung Niederlande. Vor den Deichen kann man gut die Buhnen und Lahnungen sehen, mit denen das Vorland befestigt wurde. Allerdings werde hier kein Land mehr gewonnen, stattdessen dienten die Befestigungen heute nur noch als Wellenbrecher und damit dem Schutz der bestehenden Deiche. Schwimmen könnte man hier auch, aber nach einem Blick ins braune – und vermutlich kalte – Wasser wollte irgendwie keiner.
Nach einem Schluck Tee geht es weiter, letzter Punkt heute auf der Liste ist der Polder “Holter Heinrich”. Die Geschichte dieses Polders ist recht banal. Durch die Kanalisierung der Ems und ihrer Zuflüsse konnte es bei Starkregen (Sturm) zu Überflutungen des hinter dem Deich liegenden Landes kommen. Die alten Mechanismen der Natur waren ja durch Kanäle, Begradigungen und Sperrwerke außer Kraft gesetzt. Also wurden neue Überflutungsgebiete ausgewiesen, die solche Wassermengen aufnehmen können. Teilweise wird es als Grünland bewirtschaftet, teilweise ist die Fläche auch gänzlich naturbelassen. So können Zugvögel hier in relativer Ruhe rasten und sich vollfressen. Mal ein Beispiel, wie Hochwasserschutz und Naturschutz in die gleiche Richtung arbeiten können.
Abendessen. Immer wieder wichtig. Spargel, Sauce Hollandaise, junge Kartoffeln, Schinken. Ja, eine ordentliche Küche hat es hier.

Die braucht es am nächsten Tag auch, denn nun steht die Wattwanderung an. Heute das tagesfüllende Programm, mit knapp einer Stunde Fahrt nach Neßmersiel, wo uns der Waldschrat aufgabelt. Nein, der Wattführer ist vom Nationalparkhaus Dornumersiel und sieht nur sehr urig aus. Ordentlich eincremen, heute hat es wieder warm und Sonne. Dazu mein Kanadasouvenir auf den Kopf und die Schuhe fest verschnürt. Die werden sicher auf Baltrum in die Tonne wandern, aber bis dahin müssen sie am Fuß sitzen. Denn seit einigen Jahren gibt es im Watt pazifische Austern und barfuß in die rein latschen macht wohl arg Aua. Übrigens wieder was gelernt, denn diese Austern gehören hier gar nicht ins Wattenmeer und gefährden die einheimischen Miesmuscheln.
Die Wattwanderung. 7,7 Kilometer, rund drei Stunden. Ein mieser Schnitt? Auf keinen Fall. Ungefähr 40 % gingen durch Schlickwatt, dieser fiese Moder, in dem man steckenbleibt und den Fuß nur mit List und Tücke wieder raus bekommt. Idealerweise mit Schuh. Harte Arbeit für mich, erst kurz vor Baltrum war es dann durchgehend Sandwatt, auf dem man wie auf einem festen, nassen Sandstrand läuft. Insgesamt gingen die Lehrstunden etwas an mir vorbei, weil bis ich wieder bei der Gruppe war, ging es schon weiter. Doch immerhin so viel – bloß weil man nur Schmodder und Sand sieht, heißt das nicht, dass es kein Leben gibt. Im Gegenteil. Wattwürmer, Muscheln ohne Ende, Krebse zum Anfassen und in den Prielen natürlich auch Fische. Von noch kleinerem Gekräuch mal ganz abgesehen.
Bei dem tollen Wetter war es sehr anstrengend und am Anfang auch mit viel Fluchen verbunden. Aber auch ein Erlebnis. Bei 12 Grad und Regen oder am besten noch Nebel will ich da draußen nicht lang schleichen…
Auf Baltrum angekommen – Fuße säubern. Schuhe und Socken waren triefnass und voller Schlamm, Schlick und wie das Zeug noch so heißt. Also ab in die Tonne, Ersatz hab ich mit. Das Wasser ist eiskalt, aber den Füßen macht das auch nix mehr. Leider ist die Futterstelle genau HEUTE zu, also nur das Lunchpaket zur Verpflegung. Laut App hat mich die Wanderung immerhin 1450 kcal und einen halben Liter Wasser gekostet. Mit der Fähre geht es dann zurück zum Festland, vorbei an ein paar Seehunden und durch die bei Flut immer noch schmale Fahrrinne. So vom Schiff aus sieht das Watt schon viel entspannter aus, allerdings sieht man auch, wie schnell die Priele vollaufen und wie schnell es mit der spaßigen Wanderung um sein kann. Bei Hochwasser sind die Stellen, die wir durchwanderten, zum Teil zwei, drei Meter unter Wasser.
Nach dem Anlegen geht es zum Nationalparkhaus nach Dornumersiel. Den Bildungsauftrag schiebt die Ausstellung mehr auf “die Kleinen”, klar, hier werden sicherlich Schulklassen gut unterhalten. Wenn man gerade das alles “live” hatte und noch Eindrücke sortieren muss, ist es etwas dünne. In einer Blackbox nach Muschel- und Krebsschalen tasten, wenn man gerade echte, lebendige in der Hand hatte… naja. Zum Abschluss noch einen Erdbeer-Eisbecher (nicht so gut, wie Krifteler Erdbeeren), dann retour nach Potshausen. Komplett erledigt noch Schweinebraten mit Knödeln vertilgt (lecker lecker), das reicht für heute.

Noch eine Runde Exkursion am Donnerstag, diesmal mit dem Schwerpunkt Küstenschutz und Vogelwelt. Matthias Bergmann – Dipl.-Ing. Landespflege, Zertifizierter Waldpädagoge, Obstbaumfachwart. Klingt nach einem vom Fach. Und wirklich, Vögel gucken geht besser, wenn einem jemand sagt, wo man hinschauen muss. Super getarnt, das Viehzeug. An mehreren Stationen ging es zu Fuß weiter, und es wurde klar, wie eng teilweise Industrie (Erdgasspeicherung unter Tage), Tourismus (Badestelle an der Ems), Küstenschutz (Deich) und Naturschutz (Vogelschutzgebiet) nebeneinander sind. Und ebenso klar wurde es, dass Menschen, die zu blöde sind, Schilder zu lesen, in Naturschutzgebieten echten Schaden anrichten können. Zum Beispiel können brütende Vögel aufgeschreckt werden, den Stress haben die nicht gerne. Auch Zugvögel brauchen bei der Rast ihre Ruhe. Und wenn dann noch “Experten” ihre Hunde frei laufen lassen, dann hakt es echt aus… Interessanterweise haben Kitesurfer weniger Einfluss auf die Brutvögel, unserer Guide hatte dazu mal eine Studie gemacht im Landesauftrag und einen Sommer lang das beobachtet und dokumentiert.
Am Leuchtturm Campen (im Programm dachte ich “Campen, Schauen wir uns nen Zeltplatz an??? Irgendwas mit Tourismus?!”) sahen wir dann Küstenschutz des 21 Jahhunderts. Nichts mehr mit Schubkarre und Spaten, sondern schweres Gerät. Und viel Staub. An dieser Stelle wird Kleiboden, der vor dem Deich erst als Puffer angelegt wurde, wieder abgetragen. Dadurch soll es wieder natürliche Salzwiesen geben, die durch den menschlichen Eingriff verschwunden sind. Und der Klei wird genutzt, um den Deich ein bisschen zu erhöhen. So hab ich es zumindest verstanden.
Weiter ging es nach Pilsum, bekannt für einen gewissen rot-gelben Leuchtturm. Der aber nicht so im Fokus stand wie die Fischbrötchen. An einer kleinen Vogelbeobachtungsstation konnte man noch mal Vögel gucken, ebenso später vom Deich aus. Vorm Deich waren wieder ältere Befestigungen zu sehen, die aber “zu gut” funktionieren. Die Entwässerungsgräben funktionieren so gut, dass die typischen Wiesen vor dem Deich zunehmend überwuchert werden und die Vegetation wie der Girsch verdrängt werden. Das beeinflusst wiederum auch die Fauna, weil z.B. manche Vögel sich auf diese Salzvegetation spezialisiert haben. Hängt echt alles zusammen hier!
Noch ein Abstecher nach Greetsiel, einem alten Fischerhafen, dann endet das Programm am Donnerstag. Backsteinbauten zeugen von einem früheren Reichtum hier, der Hafen ist inzwischen durch eine künstliche Halbinsel, die Leyhörn vom direkt Meerzugang abgeschnitten. Da aber beim Bau dieser Halbinsel – Küstenschutz mal wieder – eine Schleuse eingebaut wurde, können die Krabbenkutter aus Greetsiel tidenunabhängig in die Ems und damit ins Wattenmeer schippern. Mitgedacht, da war sicher auch einiges an Lobbyarbeit notwendig in den 80er Jahren.
Traditionell gibt es am Donnerstag Abend ein kleines Fest für die Seminarteilnehmer. Sommerzeit, also wird gegrillt, dazu Salate. Lecker schmecker. Und auch beim Bier wird noch mal zugegriffen und gequatscht, ob und was man in den letzten Tagen so Neues gesehen hat. Vieles kennt man schon aus dem Fernseher oder aus Büchern. Doch “in Farbe und bunt” wird das alles viel greifbarer. Und man kapiert mal wieder, dass es Naturschutz nicht für umsonst gibt und dass man auch als Tourist achtsam sein sollte, wo man seine Quadratlatschen absetzt.

Der Freitag ging zügig vorbei, noch ein Dokufilm über den Küstenschutz. Was so ansteht, auch im Zuge des Klimawandels und der Erhöhung des Meeresspiegels. Und einige Zeitzeugen von der letzten großen Flut 1962. Jupp, die Sturmflut, die Helmut Schmidt berühmt machte in Hamburg. Wieder so ein typischer Aha-Moment. Die Flut kennt jeder, und auch die Bilder aus Hamburg. Helikopter, die Menschen von Dächern retten und so weiter. Doch dass natürlich an der ganzen Nordseeküste, eben auch am Dollart und damit nur ein paar Kilometer von Potshausen weg, Deiche brachen, Menschen in Gefahr gerieten und großer Sachschaden entstand, das hatte ich nicht so direkt im Kopf. der Seminarleiter erzählte, dass damals sein Vater ein Fuhrunternehmen hatte (LKW) und Vater und Bruder voll eingespannt wurden bei der Deichsicherung, Tag und Nacht verzweifeltes Arbeiten gegen die Naturgewalten.
Aus der Wikipedia: bei Völlen (knapp 20 Kilometer von Potshausen) brach ein Emsdeich, das Dorf wurde überschwemmt, ein BW-Soldat starb bei den Rettungsmaßnahmen. Am Kanalpolder direkt am Dollart wurden die Deiche stundenlang überspült und schwer beschädigt, brachen aber nicht. Da waren am Dienstag lang gefahren auf dem Weg zum Kiekkasten…
Noch ein bisschen Feedbackrunde und dann war es das für 2018.

Nachdenklich ging es zum Mittagessen, Freitag, also Backfisch. Schon wieder lecker. Die wissen echt, wie das geht! Noch einmal Mund abputzen, das Auto war morgens schon gepackt und es geht heimwärts. Stau und Stau durch den Ruhrpott und um Köln herum. Danach ging´s. War klar, ab da ist auch mein Papa gefahren…

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