Ein Stadtrundgang
Wie viele Kilometer ich in der Kindheit durch Rüsselsheim gelaufen bin, kann ich nicht sagen. Hunderte, vermutlich Tausende, wenn ich allein an den täglichen Schulweg denke. Kein Wunder, dass ich damals so ein dünner Hering war!
Dieses Jahr war ich ein paar Mal “zu Besuch” und es hat sich doch einiges geändert. Damit meine ich nicht mal die Lage im Einzelhandel, das hat ein Kind doch weniger interessiert. Aber auch baulich gab es manch Neues, was davon besser ist, oder schlechter, sei einmal dahin gestellt. Und hängt auch sicher von der Meinung des Einzelnen ab. “Beauty is bought by iudgement of the eye”, heißt es schon bei Shakespeare.
Damals war ich ein echtes Stadtkind, kannte jeden Winkel, jeden Durchgang in der Innenstadt. Und manches lässt mich heute schmunzeln. Ein Beispiel? Man kennt ja den Europaplatz und auch den Löwenplatz.
Immerhin zwei Plätze in der Stadt, deren Namen und Platzierung mit Bedacht gewählt werden konnte – im Gegensatz zu einem Bahnhofs- oder Marktplatz. Und was sieht man nun? Der Löwenplatz, benannt nach einem alten Gasthof, der in den 70ern der vermeintlichen Neuzeit in Form eines Einkaufszentrums und einer Tiefgarage weichen musste. Große Fläche, lichte Weite, überragt von einer großen Bronzestatue, auf der man prächtig klettern konnte. All das benannt nach einer alten Kneipe, an die meine Generation sich nicht mehr erinnern kann.
Und dagegen der Europaplatz? Eingezwängt damals zwischen Blumenladen, ALDI und hohen Bürogebäuden – idylisch gelegen am Hinterausgang von KAMA/Jeske.
Metaphorisch betrachtet: “Ewig im Schatten der Wirtschaft und der Banken steht Europa (die Frauenfigur aus der Antike) kopflos am Ufer eines kleinen Tümpels. Ihr gegenüber faul der Stier (also Zeus, der (An-)Führer der alten Mythen). Ihm können alle den Buckel runter rutschen, er bläst nur die Backen auf und sprüht ein wenig Wasser in den Teich.”
So viel zu Imposanz und Wichtigkeit Europas im Rüsselsheimer Stadtbild.
Der Weg führt mich weiter durch die Stadt. Nach dem Friedensplatz geht es in den Park. Wirklich schön gemacht, scheinbar haben die zuständigen Gärtner ihre Werkzeuge wieder gefunden. Früher war hier vieles verwildert und zugewuchert, heute kann man wieder viel mehr von den alten Mauern sehen. Gerade an der großen Burgruine oder auch von der Mauer zum Damm hin, wo ich früher im Sommer Verstecken spielen konnte, hält kein Strauch, kein Busch mehr den Blick auf.
Die Treppe hinauf, zum Damm, seit JahrzehntenTrennung zwischen Stadt und Fluß – weit schweift der Blick über das Land. Auch imUferbewuchs haben Gartenwerkzeuge große Lücken hinterlassen. Der tiefere Sinn? Immerhin kann man heute die Bänke am Fluß auch erreichen, ohne über Trampelpfade zu laufen. Das ist doch wirklich ein Fortschritt. Damals konnte man im Hochsommer auf den Mainwiesen noch in hüfthohem Gras rumrennen.
Und über allem liegt die Festung, noch ein Restaurierungsobjekt. Zugewachsene Wälle sind nun sogar begehbar, auch die alten Bollwerke kann man nun ohne Angst betrachten und herum klettern. Irgendwie fehlt aber auch hier nun der Abenteueraspekt – alles ist gut einsehbar, verstecken und klettern ist hier total out. Ein kurzer Blick in den Park zurück. Wo einst der Minigolf-Platz lag, ist nur noch eine Wiese. Gut für die Opel-Classics, wenn hier Autos ihren Platz finden. Aber für mich ein weiterer Ort der Jugend, der einfach verloren ist. Wie hat man sich gefreut, wenn der Ball beim ersten Schlag im Netz gelandet war! Doch ebenso wie der alte Kiosk in der Marktstraße unter der Linde ist auch hier nur noch gähnende Leere.
Ebenso wie auf dem Gelände des alten Schwimmbades. Damals mit der Punktekarte in den Sommerferien, früh morgens ging es los, wenn das Nichtschwimmerbecken noch im Schatten lag. Mittags ein Eis vom Büdchen. Und später durch das Drehkreuz wieder raus. Wie viele Jahre ist da nun schon zu? Bei Google Maps kann man es sich noch von oben anschauen, da scheinen sogar noch die Rutsche und der Sprungturm zu stehen. Wie groß die Liegewiesen doch sind! Die besten Plätze waren am Wochenende schon früh weg.
Nebenan das Stadion – wenn man es sich so anschaut, scheint hier auch ein wenig der Größenwahn gehaust zu haben bei der Planung. Wie viele Kassenhäuschen braucht man eigentlich? Neulich habe ich sie gezählt, drei zum Damm hin und vier in Richtung Schwimmbad, wenn ich mich recht entsinne. Laut Wikipedia fasst das “Stadion am Sommerdamm” 8,000 Zuschauer, wann das wohl zuletzt ausgenutzt wurde? Als ich hier vorbei laufe, spielen hinter der Tribüne ein paar Knirpse Fußball auf dem Hockeyfeld, der Rest der Anlage liegt verwaist im gleißenden Licht der Nachmittagssonne.
Weitere verlorene Plätze gefällig? Hinter dem Theater lag früher mal die Jugendbücherei in einem kleinen Kabuff, bevor sie in den Treff umzog. Direkt daneben stand eine kleine BMX-Strecke, aber ohne schicke Holz- oder Betonelemente – eine schiere Erdstrecke. Angeblich sind damals Kinder noch ohne Helm und Protektoren darauf rumgeheizt. Unvorstellbar!
Die US-Kaserne musste schicken Neubauten weichen, Doppelhaushälfte statt Detroit Diesel. Dafür kann man heute das alte NSDAP-Parteiheim aus der Nähe betrachten, früher war das ganze Areal mit vielen Rollen Stacheldraht umgeben. Der Blick durch den Stacheldraht von der Königstädter Straße aus durch den Draht und das Tor hindurch… die Treppe herunter auf den Platz mit dem Fahnenmast. Ob den Soldaten bewusst war, wer damals diese massiven Granitplatten hier hatte verlegen lassen, auf denen sie nun ihre Flagge hissten?
Der Bahnübergang Königstädter Straße ist auch weg – in Rüsselsheim mindestens schon der zweite Übergang der einer Unterführung weichen musste. Darmstädter Straße / Marktstraße war auch mal einer, doch den gibt es schon ewig nicht mehr. Ebenso wie den alten Busbahnhof. Der schrittweise Abriss des Güterbahnhofs hat auch einiges verändert an diesem zentralen Platz. Erst die Straße hinter der Schauburg – ich kenne die Bahnhofstraße noch als Durchgangsstraße für den Busverkehr! An der Ecke Bahnhofstraße / Bahnhofsplatz war damals noch eine Ladenpassage, inzwischen alles im C&A zusammen gelegt. An der anderen Ecke eine Bank, war das die Commerzbank? Später eine kurzlebige Szenekneipe namens “Pflaumenbaum”. Und über den Platz blickt damals wie heute der olle Adam Opel.
Manches hat sich gewandelt in Rüsselsheim – eigentlich bin ich schon seit Jahren nicht mehr hier wohnhaft. Umso mehr fallen einem die Veränderungen auf, wenn man nach Jahren wieder her kommt. Schön wars damals…